Veranstaltung zum Gedenken an den 9. November 1938

Als „Kristallnacht“ oder „Novemberpogrome“ werden die Terrorakte gegen Juden und Jüdinnen bezeichnet, die vor allem in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 im gesamten Deutschen Reich stattfanden. Wie es an unserer Schule Tradition ist, beschäftigen sich die Schüler:innen des 13. Jahrgangs im Rahmen von Workshops jedes Jahr an einem Tag Anfang November mit den Gewaltaktionen gegen deutsche Jüdinnen und Juden. Zum Gedenken an diese Ereignisse im Jahr 1938 hielt unser ehemaliger Kollege Gerhard Dotzauer, der an der MBS Deutsch, PoWi und Geschichte unterrichtete, in unserer Aula eine Rede.

In seiner Rede thematisierte er zunächst die historische Bedeutung des 9. Novembers in Deutschland, rief zum Nachdenken über die Ereignisse auf, die sich an einem 9. November in Deutschland abgespielt haben: 1918: Ausrufung der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in Deutschland, die jedoch nur von kurzer Dauer war; 1923: Hitler-Putsch, ein Versuch, diese Demokratie zu stürzen; 1939: Gescheitertes Attentat Georg Elsers auf Hitler; 1989: Fall der Berliner Mauer, ein Grund zur Freude. Abschließend schlug er einen Bogen zu dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der anschließenden Bombardierung des Gazastreifens durch Israel.

Den Schwerpunkt seiner Rede legte Dotzauer auf den Pogrom vom 9. November 1938, indem er zunächst die Vorgeschichte des Antisemitismus in Deutschland skizzierte: Der Judenhass, verstärkt durch Figuren wie Karl Lueger in Wien, prägte Adolf Hitler und fand im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt. Ab 1933 erfuhren die deutschen Jüdinnen und Juden eine systematische Entrechtung, dokumentiert durch zahlreiche Gesetze wie das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und die Nürnberger Gesetze. Der Pogrom des 9. Novembers wurde durch die Ermordung eines deutschen Diplomaten durch einen jungen polnischen Juden ausgelöst: Sie diente der NSDAP als Vorwand für brutale Angriffe, welche sich in der Zerstörung von Synagogen, Plünderungen, Verhaftungen und die Erhebung von Strafzahlungen gegen Juden manifestierten. Nur durch Zufall entging dabei der Friedhof neben unserer Schule der Zerstörung. Der Pogrom markierte den Übergang zu offenem, staatlich organisiertem Antisemitismus und war ein Wendepunkt hin zur Shoah.

Besonders nachdrücklich und einen persönlichen Ton treffend rief Dotzauer im weiteren Verlauf dazu auf, den 9. November und seine Konsequenzen nicht zu vergessen. Hier folgt nun ein wörtlicher Auszug aus seiner Rede:

„Daher ist dieser Tag zu einem Tag des Gedenkens an den nationalsozialistischen Judenmord geworden. Ein Tag zum Gedenken daran, dass diese Taten nicht etwa nur in deutschem Namen begangen wurden, sondern von leibhaftigen Deutschen, vielleicht auch von Vorfahren Ihrer Lehrerinnen und Lehrer oder von Vorfahren der Schüler unter Ihnen, die deutscher Herkunft sind. Als einer, der ein solche Erbschaft zu tragen hat, stehe ich jetzt vor Ihnen: Meine Eltern waren überzeugte Nationalsozialisten und mein Patenonkel freiwillig als Offizier bei der SS. Wie sollen wir Kinder, Enkel und Urenkel der Täter und Mitläufer mit solcher Erbschaft umgehen? Wir können ja nichts ungeschehen machen, die Untaten bleiben Untaten, wir können sie nicht kleinreden und wir können sie nicht verleugnen. Ausschlagen können wir diese Erbschaft auch nicht und akzeptieren wollen wir sie ebenso wenig.

Wenn wir also unsere Vorfahren nicht mehr rückwirkend ändern, wenn wir die Vergangenheit nicht mehr umkehren können, so können wir wenigstens versuchen, die Gegenwart und die Zukunft so zu gestalten, dass das, was geschehen ist, sich nicht wiederholt.

Daher konfrontieren wir Sie heute und immer wieder mit dem Nationalsozialismus und mit den Lehren, von denen wir meinen, Sie müssten sie aus dieser Konfrontation ziehen. Das heißt, das Gedenken geschieht nicht um des Erinnerns, Erinnern nicht um des Gedenkens willen. Wenn Gedenken überhaupt einen Zweck haben soll, dann doch nur den, dass wir Gedenkenden einen Bezug zu uns und unserem Handeln in der Gegenwart herstellen.

Was bedeutet das, werden Sie fragen, was bedeutet das konkret für das heutige Gedenken der MBS an die Reichspogromnacht?

Zum Einen ganz einfach:

Nie wieder Antisemitismus in Deutschland! D.h. Juden müssen hier so akzeptiert werden wie jeder andere in diesem Staat und dieser Gesellschaft. Sie müssen hier so angstfrei und so geschützt leben, dass sie dieses Land wenn nicht als Heimat, so doch wenigstens als sicheres Zuhause wahrnehmen können.

Und zum Anderen:

Dieser Anspruch muss auch gelten für andere, für alle Minderheiten hier, auch z.B. für Muslime.

Also nie wieder Rassismus und Fremdenfeindlichkeit! Nie wieder Halle, nie wieder NSU, kein Solingen und Mölln, kein Hoyerswerda oder Rostock, keine Pegida und keine Remigration, sondern im Gegenteil: Solidarität mit den jeweils Gefährdeten!

Wie also umgehen mit der Kreuzberger und nicht nur Kreuzberger Freude über das Massaker vom 7. Oktober? Wie also umgehen mit dem aktuellen migrantischen und deutschen Antisemitismus?

Und außerhalb Deutschlands?

Müssen wir solidarisch sein mit dem Staat Israel, in dessen späteres Gebiet Juden auf der Flucht vor der Vernichtungsdrohung eingewandert sind, um ungefährdet Juden sein zu können, und der seit seiner Gründung 1948 in seiner Existenz bedroht ist.

Wie dann aber umgehen mit Besatzungs- und Siedlungspolitik dieses Staates?

Und wie umgehen mit den Palästinensern, die aus ihren Dörfern und Städten vertrieben wurden, obwohl sie am Holocaust keine Schuld trugen, und insofern auch Opfer deutscher Politik geworden sind?

Müssen wir ihnen deshalb zur Seite stehen? In ihrem Kampf um ein freies, selbstbestimmtes Leben? Auch in Ihrem Kampf gegen Israel? Fragen, denen Sie sich, denen wir uns stellen müssen.“

Dotzauer rief nun seine Zuhörer:innen dazu auf, zum einen gemeinsam der Israelis zu gedenken, die an und nach dem 7. Oktober 2023 Opfer des brutalen Massakers der Hamas geworden sind oder sich noch immer in deren Händen befinden, zum anderen auch die zahllosen Palästinenser:innen im Gazastreifen und im West-Jordanland gemeinsam zu betrauern, die zu Opfern der militärischen Reaktion des Staates Israel auf diese Massaker geworden sind und immer noch werden.

Seine berührende Rede schloss Dotzauer mit zwei Wünschen: „dass Israelis und Palästinenser den Krieg beenden und den Frieden gemeinsam erarbeiten können und dass dieser Friede auf Dauer ein geordnetes und gleichberechtigtes Zusammenleben der beiden Völker in Palästina und Israel ermöglicht.“

Plakat zur Gedenkveranstaltung zum 9. November